Jugendroman - Sommer unter schwarzen Flügeln von Peer Martin

01 Juni 2015

Ein literarisches Meisterwerk, ein authentisches, berührendes und sehr spannendes Debüt.

Der authentischste und beste Roman, in wundervoller Sprache, den ich je gelesen habe. Er berührt unendlich, macht wütend, lässt hoffen.

Dies ist wohl die längste Rezension die ich je geschrieben habe.

Nuri, mit ihrer Familie unter schwierigen und unmenschlichen Bedingungen aus Syrien geflüchtet, lebt unter vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kulturen, in einem Asylbewerberheim. Sie besucht regelmäßig eine ältere Dame, die einst Ausschwitz überlebt hat, und verfeinert dort ihre guten Deutschkenntnisse indem sie ihre Geschichte über ein bitteres, vergangenes Leben in Syrien erzählt.
Eines Tages trifft sie dort auf Calvin, den sie vor einem Sturz in die Tiefe rettet. Calvin hasst Ausländer zutiefst und ist engagiertes Mitglied in einer rechtsextremen Jugendgang. Er favorisiert Hitlers Ansichten und will für ein „reines“ Deutschland kämpfen.
Als sich Calvin und Nuri zufällig über den Weg laufen, beginnt Nuri einfach zu erzählen. Sie erzählt von ihrer Heimat, von einem Dorf am Rand der Wüste, von dessen Schönheit und von den „Schwingen des Bösen“, die sich über ihr Heimatland Syrien legten und sie seit dem verfolgen und bedrängen.



Calvin will zunächst nichts von dem hören was Nuri erlebt hat, doch schon bald ist er in den Bann ihrer herzzerreißenden Erzählungen emotional gefangen. Sie verlieben sich und Calvins Einstellung zum Leben verändert sich, doch wie kann man sich von seinen rechtsorientierten Freunden trennen, wie eine Neonazi-Szene verlassen? Nuri und Calvin beschreiten einen äußerst riskanten und gefährlichen Weg und sie sind fest entschlossen, das Leben der Menschen im Asylbewerberheim zu retten.


„Peer Anders Martin wurde 1968 in Hannover geboren. Schon als Jugendlicher interessierte er sich neben Basketball, Eckkneipen und Schwarzweißfilmen für das Schreiben, kam allerdings über merkwürdige Kurzgeschichten nie hinaus. Nach einem Sozialpädagogikstudium in Berlin (wo er seine ganz erstaunliche Frau und erste Leserin kennenlernte) arbeitete er mehrere Jahre mit Jugendlichen in Berlin, Brandenburg und Vorpommern, zuletzt auf der Insel Rügen. Diese Erfahrungen und die Erzählungen eine syrischen Freundes brachten ihn schließlich dazu, seinen ersten Roman niederzuschreiben, der auf seinen vielen langen Spaziergängen an den Stränden der Ostseeküste entstand, wo er seine Geschichte zuerst der geduldigen Hündin Lola erzählte. Seit kurzem lebt er mit seiner Frau, drei Kindern und Lola in Quebec und konzentriert sich ganz auf seine Geschichten (und natürlich seine Kinder).“


Es entspricht absolut meinem Geschmack, denn es ist schlicht und somit für mich edel. Entnimmt man den pergamentartig durchschimmernden Schutzumschlag, so schwindet der rote Schriftzug des Titels vollends. Zurück bleibt ein zart gräuliches Hardcover, das lediglich von dem Autorennamen „Peer Martin“ und zwei Menschen in Form einer schwarzen Silhouette geschmückt wird.


Ich empfinde dieses Buch im Genre Jugendliteratur nicht glücklich platziert. Es ist ein Jugendroman und Jugendliche sind ganz bestimmt die richtige Zielgruppe für dieses Buch, doch durch die Platzierung in diesem Genre greifen die „erwachsenen“ Leser und Liebhaber gesellschaftskritischer Literatur nicht zu. Diese verpassen meiner Auffassung nach dieses grandiose Debüt eines zeitaktuellen Gesellschaftsporträts, denn sie überlesen die Buchneuvorstellungen in diesem Genre sicherlich. Dieses Buch ist bei Jung und Alt in den besten Händen, da es sozialkritisch die Themen unseres Alltags beleuchtet.



Der Schreibstil und die Handlung:



Trauriger Weise bietet das Leben diesem Roman tragisches Futter für die Handlung. Die Konflikte in Nah-Ost, die Islamisierung weltweit, rechte Gewalt in Deutschland, Ausländerfeindlichkeit, Asylpolitik und ganz besonders der Krieg in Syrien kreieren die Handlung dieses Romans. Sozialkritisch und schmerzend ehrlich verarbeitet Peer Martin sehr geschickt unsere Wirklichkeit in wundervoller Sprache.



Der Schreibstil ist in seiner Art und Weise differenziert dargestellt und passt sich den Inhalten der unterschiedlichen Erzählperspektiven an. Erzählt die Hauptprotagonistin Nuri von ihrem Leben in ihrem Heimatland, bevor die „schwarzen Flügel“ ihr Leben bitter verdunkeln, so genießt der Leser einen wunderschönen, maßvoll poetischen Schreibstil der süchtig macht und mein Kopf Kino mit traumhaften Bildern füttert. Ich empfinde diesen feingezeichneten Schreibstil als ein überwältigendes, literarisches Meisterwerk, der den Leser in eine andere Welt entführt.



Als sich die „Schwingen des Bösen“ über Syrien legen, Krieg, brutalste Gewalt, Terror und Folter in Nuris Erzählungen vorherrschen, schreibt Peer Martin in einem Stil, der mich in die düstere, grauenvolle Stimmung in Syrien hineinversetzen lässt. Fast kann ich die Ängste der Menschen dort spüren, die um ihr Leben fürchten müssen und kaum einen Ausweg erkennen können. Und, ich weiß leider genau, dass dies nicht nur ein Roman ist, sondern bitterste, unfassbare Wirklichkeit. Ich bin sehr berührt und sehr bereichert, da ich ein besseres Gefühl für diese Menschen und ihre Situation entwickeln konnte. Am liebsten möchte ich all diese Menschen umarmen.



Ein weiterer Erzählstrang führt mich in den Alltag der Menschen, die ein Asylbewerberheim ihr Zuhause nennen müssen. Ihre Sorgen, Nöte und Ängste sowie ihr Gefühl, auf Grund der rechtsextremen- und ausländerfeindlichen Menschen in ihrer Umgebung, erneut gefangen zu sein, kann ich förmlich spüren. Calvin und die Mitglieder der Neonazi-Gang entstammen einem sozialen Brennpunkt, sie sind Schulabbrecher, sie sind arbeitslos und beziehen Hartz IV, sie sind völlig perspektivlos und absolut gewaltbereit. Ihr ganzer Frust, in Form von Parolen und Gewalt, trifft auf Ausländer, auf die Flüchtlinge im Asylbewerberheim und auf Nuris Familie.



Nuri und Calvin treffen immer wieder aufeinander. Langsam gedeiht eine zarte Liebesgeschichte. Sie ist unglaublich authentisch, emotional sehr berührend und dennoch vermute ich als Leser, dass sie in diesem Umfeld nicht bestehen wird. Nuri schafft es mit ihrer überwältigenden Art Calvins Welt- und Deutschlandbild ins Trudeln zu bringen. Es ist Faszination pur, Nuris Gedankenwelt in dieser Geschichte zu lesen. Und dennoch, es ist eine Liebesgeschichte, doch im Vordergrund stehen hier eindeutig die Konflikte unserer Zeit. Spannend wie ein Thriller ist dieses Buch. Ein Pageturner, denn man kann es nur schwer pausierend zur Seite legen. Und wenn es denn zugeklappt ist, kreisen meine Gedanken um diese authentische Geschichte, die mich völlig ergreift, mich zutiefst berührt und in mir eine kaum zähmbare Wut auf diese Welt wachsen lässt.



Peer Martin hat diesen Roman perfekt recherchiert. Er hinterlässt im Buch am Ende der Kapitel Weblinks, die mir nicht nur Bilder der bezaubernden syrischen Landschaft zeigen, sondern auch die menschenunwürdigen Bilder des Krieges. Die Links erläutern mir Begrifflichkeiten der syrischen Kultur, politische Ereignisse werden mir zurück ins Gedächtnis gerufen, religiöse Hintergründe und islamistische Gruppierungen erläutert und wenn ich mag, kann ich nun auch noch nach syrischen Rezepten kochen. Wer mehr über diesen Roman erfahren möchte, wer Zahlen, Daten und Fakten lesen möchte, der sollte sich die Webseite www.unter-schwarzen-fluegeln.com anschauen.


Die Charaktere:



Die Charaktere sind sehr fein gezeichnet und von hoher Authentizität. Die Glaubwürdigkeit der Charaktere ist bitter, denn sie spiegelt die Menschen unserer Zeit wieder. Nuri, die Hauptprotagonistin, ist sehr sympathisch und ein Stückchen ihrer Art fehlt mir bei vielen vielen Menschen. So fruchtbar waren ihre Erlebnisse in Syrien, so schrecklich trifft sie es in Deutschland an und dennoch bewahrt sie ihr gutes Herz und ihre Freude an den „kleinen“ Schönheiten des Lebens. Calvin ist mir zunächst unsympathisch, denn ich mag keine Neonazis und extrem ausländerfeindliche Menschen. Doch mit den Seiten und mit der Veränderung seiner Lebenseinstellung entwickele ich Sympathien für ihn, letztendlich wächst er mir ans Herz und ich erfreue mich an seinem Mut gegen den Strom zu schwimmen und die Gruppendynamik für sich zu zerstören. Alle weiteren Charaktere dieses Romans sind ebenso authentisch. Durch sie wird mir nicht nur die syrische Kultur näher gebracht sondern auch ein Einblick in islamische Religionsformen gewährt. Die Charaktereigenschaften der rechtsorientierten Jugendgang hingegen, zeigen mir erschreckend auf, wie viel Gewaltbereitschaft und Hass möglich sein kann.


Dieses Buch hat mich sehr fasziniert und in seiner realistischen Tragik überwältigt. Es ist mein absolutes Lesehighlight geworden und ich werde es hüten wie einen wertvollen Schatz. Es ist so spannend und gruselig wie ein Thriller, so lehrreich wie ein Sachbuch und so emotional wie ein Liebesroman.



Meine Empfehlung:



Ich empfehle dieses Buch allen, die gute und sehr spannende Romane lieben. Denen, die bereit sind einen gesellschaftskritischen Inhalt zu begreifen, der von unserem Weltzeitgeschehen geschrieben wird. Man muss Bitternis aushalten können, doch man wird mit einem wundervollen Schreibstil belohnt und einer wunderschönen Liebesgeschichte.



Mein Empfehlungswunsch:



Ich möchte dieses Buch zur Pflichtlektüre küren. Ich möchte es allen ausländerfeindlichen, rassistisch veranlagten Menschen und Rechtsradikalen verpflichtend zum Lesen in die Hand drücken. Manch einem Bürokratiemonster als Sachbuch ans Herz legen und manchem Politiker und Herrscher als Strafarbeit 50 Mal abschreiben lassen, bis sie alle begreifen und endlich handeln.

Highlight 2015


Autor: Peer Martin


Erscheinungsdatum Erstausgabe : 20.02.2015

Aktuelle Ausgabe : 20.02.2015

Verlag : Oetinger


Fester Einband 496 Seiten