Roman - Gastrezension von Lienz - Das Mädchen mit dem Fingerhut von Michael Köhlmeier

29 März 2016

Jede Mutter liebt ihr Kind. Jedes Kind kennt seinen Namen. 
Wirklich?

Wie sie der Kälte strotzt

Das Mädchen mit dem Fingerhut hat keine Mutter, keinen Namen. Irgendwann von einem Erwachsenen gefragt, wie es denn hieße, nennt es sich Yiza. Das könnte usbekisch sein – so der Autor in einem Interview mit der Zeitung „Neue Presse“. Eine englischsprachige Erklärung des Wortes habe ich finden können, und sie beschreibt meines Erachtens sehr schön, worum es Michael Köhlmeier in diesem sehr besonderen Roman geht. Yiza bedeutet danach einen Daseinszustand (http://yiza.meaningdef.com/).

Yiza ist sechs Jahre alt, sie kommt nirgendwo her und gehört nirgendwo hin. Sie ist einfach da. Wo sie ist, kann sie ebenso wenig sagen. Für den Leser, der Yizas Weg als ergriffener Beobachter folgt, zeigt sich rasch, dass es eine Stadt in der EU sein muss. Eine Stadt, in der der Winter eisig ist.


Yiza ist da, und sie will leben. Den Winter überleben. Ein sechsjähriges Mädchen in einer großen europäischen Stadt, das sich alleine durch den Winter bringen muss. Letztlich ist sie nicht völlig allein. Denn es gibt mehr Kinder wie sie, die keiner kennt und keiner will. Als schließlich eine mütterlich wirkende Frau eingreift, wendet sich die Geschichte. Ob zum Besseren, sei nicht verraten.

Der folgende Textauszug ist Teil des Klappentexts und zeigt, wie wunderbar Michael Köhlmeier zu schreiben versteht.

„Sie wartete, wie er es ihr befohlen hatte. Sie steckte die Hände in die Fäustlinge, drückte sich die Mütze über die Ohren und verschränkte die Arme. Sie zog den Kopf ein, weil über dem Kragen ein Stück nackter Haut herausschaute. Sie stellte sich mit dem Rücken gegen den Wind. Menschen gingen an ihr vorüber, aber keiner sagte etwas. Sie sah nicht aus, als wäre sie verlorengegangen. Sie sah aus, als wartete sie.“

Michael Köhlmeier schreibt aus einer ähnlichen Perspektive, in der Märchen erzählt werden: ein dem Geschehen äußerst naher, jedoch nicht personaler Erzähler. Dies bewirkt beim Leser zweierlei: Zum einen ist man ganz nahe bei Yiza, so nahe, dass man Yizas Schmerz ebenso fühlt wie ihre erstaunliche Stärke – die Überlebenskraft eines Kindes aus der schnörkellosen Sicht des Kindes. Yiza hinterfragt nicht, sie akzeptiert und handelt, wie es erforderlich ist. Zum anderen beginnt sich der Leser zu fragen, wie er selbst denn solchen Kindern gegenüber stünde.

Michael Köhlmeier zeigt zudem ganz klar auf, dass Aussehen polarisiert und dass, wer niedlich ist, die besseren Chancen hat. Außerdem zeigt er, dass Kommunikation auch ohne gemeinsame Sprache funktionieren kann – bei Kindern instinktiv noch viel besser als bei bereits geprägten Erwachsenen. Somit ist der Roman auch eine zutreffende Gesellschaftsstudie.
Ich habe „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ gekauft, nachdem ich Bibliomaries Rezension des Buchs auf LovelyBooks gelesen hatte. 

Yiza hat mich auf wunderbare Weise berührt.

Absolute Leseempfehlung für diesen besonderen Roman Michael Köhlmeiers.

Titel: Das Mädchen mit dem Fingerhut
Autor: Michael Köhlmeier

  • Erscheinungsdatum Erstausgabe :01.02.2016
  • Aktuelle Ausgabe : 01.02.2016
  • Verlag : Hanser, Carl
  • ISBN: 9783446250550
  • Fester Einband 144 Seiten
  • Sprache: Deutsch

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