Thriller - Totenlied von Tess Gerritsen

01 August 2016

Die Macht der Musik oder, als der Himmel vor Verzweiflung schrie


In einem Antiquitätengeschäft in Rom kauft Violinistin Julia Ansdell ein antikes Notenheft, aus dem eine handschriftliche Aufzeichnung eines unbekannten Walzers hinausflattert.

Zuhause angekommen, beginnt sie den unbekannten Walzer auf ihrer Geige zu spielen. Während die aufwühlende Melodie von Julia einiges an Können abverlangt, tötet Julias dreijährige Tochter ihre Katze.

Als Julia bemerkt dass merkwürdige Dinge geschehen, während sie den unbekannten Walzer spielt, macht sie sich berechtigterweise, vor allem um ihre Tochter Lily, große Sorgen. Lily wird aggressiv und Julia kann sie kaum wiedererkennen.
Erschreckt über das Verhalten ihres Kindes sucht sie einen Kinderarzt auf, der die Kleine aufwendig medizinisch untersucht. Dabei stellt er fest, dass Lily dieses Musikstück in ihrem Langzeitgedächtnis abgespeichert hat. Unmöglich, wo doch der Walzer niemals veröffentlicht wurde und Lily ihn garantiert noch nie gehört haben kann.

Julia ist mit ihren Gedanken und Sorgen allein. Ihr Ehemann Rob vermutet, dass Julia psychische Probleme hat, da auch schon ihre Mutter Camilla psychiatrisch behandelt wurde. Um der Herkunft des Stücks auf den Grund zu gehen und um gegebenenfalls dadurch auf Lilys Verhalten rückschließen zu können, reist Julia zurück nach Rom. Doch sie ahnt nicht, dass ihr Leben in höchster Gefahr ist.
So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller »Die Chirurgin«, in dem Detective Jane Rizzoli erstmals ermittelt. Tess Gerritsen lebt mit ihrer Familie in Maine. (Quelle: LIMES Verlag)
Mit Totenlied ist Tess Gerritsen ein Meisterwerk gelungen. Für mich ist dieser stand alone Thriller definitiv ihr bester. In sehr schöner und fließender Sprache erzählt Tess Gerritsen eine Geschichte über einen Walzer, dessen Komponist und Herkunft unbekannt sind. Ihren gewohnt guten Schreibstil hat Tess Gerritsen mit Totenlied noch einmal übertroffen und sie versteht es wahrlich, die Spannung auf hohem Niveau durch die Seiten strömen zu lassen, ohne dass Blut aus ihm hinaustropft. Einige werden eventuell kritisieren, dass nicht allzu viele Thriller-Elemente in Totenlied berücksichtigt worden sind, doch ich persönlich empfinde das Genre Thriller gerechtfertigt, wenn er auch eher sanft aber dafür sehr intensiv daherkommt.

Totenlied wird in zwei Handlungssträngen erzählt, die in unterschiedlichen Zeitebenen spielen und die erst gegen Ende ineinanderfließen. Die Figuren sind sehr fein gezeichnet und sie besitzen ein Leben, an dem die Autorin den Leser maßvoll teilhaben lässt. Charakterstark oder labil, gut oder böse, viele Figuren mit unterschiedlichen charakterlichen Eigenschaften bereichern die Geschichte auf vielfältige Weise, ganz zum Genuss des Lesers.

Im ersten Handlungsstrang verändert sich Julias Tochter Lily, während sie den Walzer hört. Diese Veränderungen erlebt jedoch ausschließlich Julia und auch nur ihr gegenüber wird Lily plötzlich aggressiv. Julias Schilderungen stoßen in ihrem Umfeld auf Unglauben. Ihr Ehemann Rob vermutet gar, dass sie psychische Probleme hat, sodass sie in einen inneren Konflikt gerät, der sie fast zerreißt. Sie erkennt ihre eigene Tochter nicht wieder, kann sich ihr nicht mehr liebevoll und mütterlich nähern und sie entfernt sich auch von ihrem Ehemann. Sie beginnt eine Rolle zu spielen. Bei jedem Schritt den sie tut überlegt sie, wie er wirken wird, damit ihn niemand als krankhaft interpretieren kann.  Diesen Konflikt setzt Tess Gerritsen brillant in Szene. Als Leser schlage ich mich auf die Seite der sympathischen Julia, da ich die Veränderungen des Kindes miterlebe.

Der zweite Handlungsstrang, ich würde ihn durchaus als Haupterzählstrang deklarieren, spielt in der Zeit kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Venedig, Italien. Man lernt den jungen, sympathischen und bescheidenen Lorenzo kennen, dessen Vater ein bekannter Geigenbauer ist. Lorenzo ist ein begnadeter Geigenspieler und er hat hochgesteckte Ziele, die er plötzlich nicht mehr umsetzten kann, da er als Jude nicht der italienischen, reinen Rasse angehört. Tess Gerritsen hat die Dramatik dieser Zeit ausgesprochen gut recherchiert, beschrieben und verarbeitet. Diese Perspektive bietet auf Grund der geschichtlichen Authentizität eine grausige Grundstimmung, die mich gepaart mit Spannung und Emotionalität unglaublich fesselt. Ich bin nicht diejenige, die gern Liebesgeschichten in Thrillern verpackt sieht, doch diese hier zerreißt mir fast das Herz.

Wie die Autorin im Nachwort betont, will sie mit diesem Roman den Menschen dieser finsteren Zeit ein Denkmal setzten, die Juden unterstützten und die Akte der Menschlichkeit vollbrachten, mit der sie Hoffnung säten. Auch Lamberto und seiner Familie wurden von selbstlosen Menschen Unterschlupf gewährt und aufopfernde Hilfe zuteil.

Das Vereinen der beiden Perspektiven gelingt Tess Gerritsen spielend leicht. Intelligent verknüpft sie die charakterstarken, authentischen Figuren von einst in das Hier und Jetzt und lässt mich emotional tief berührt zurück. Trotz dass der Showdown wie ein Gewittergrollen alles übertönt, indem Lambertos geliebte Musik und Geige noch einmal eine große Rolle spielen, bleibt dem Leser dennoch auch Luft zur persönlichen Interpretation.

Den Walzer „Incendio“, um den sich die Handlung im Kern dreht, komponierte Tess Gerritsen. Der Titel wurde von der preisgekrönten Violinistin Susanne Hou eingespielt und steht auf deren Webseite zum Download zur Verfügung.
Totenlied ist ein Highlight unter den Thriller-Neuerscheinungen. Es begeistert, fesselt und stimmt nachdenklich zugleich. Meine absolute Leseempfehlung, nicht nur an Thriller-Fans.


Titel: Totenlied


Erscheinungsdatum Erstausgabe : 25.07.2016
Aktuelle Ausgabe : 25.07.2016
Verlag : Limes
Flexibler Einband

Sprache: Deutsch

15 Kommentare:

  1. Deine Rezi macht mich noch neugieriger auf das Buch als ich so schön bin 😊

    LG
    Tanja

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    1. Wunderbar, liebe Tanja, das war meine Absicht :-)

      Liebe Grüße

      Nisnis

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  2. Vielen Dank für die wunderschöne Rezension! Mit diesem Roman liebäugel ich tatsächlich, werde gleich in den Walzer reinhören :-)

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  3. Ich habe vor ungefähr 2 Jahren schon mal einen Stand-Alone-Thriller von Tess Gerritsen gelesen und fand ihn ebenfalls toll. Schade, dass man immer viel zu wenig Zeit hat, alles zu lesen, was einem so gefällt :-) Aber "Totenlied" wandert auf jeden Fall auf meine Wunschliste :-)

    LG
    Tina

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    1. Liebe Tina,

      Tess Gerritsen begeistert, meistens, nicht immer :-). Heisskalte Angst zum Beispiel, konnte mich kaum begeistern.

      Herzliche Grüße

      Nisnis

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  4. Ich glaube, ich hab noch kein Standalone von Tess Gerritsen gelesen, aber dieser Roman ist wohl ein MUSS. Danke für die Rezension :-)

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    1. Sehr gern liebe Denise, du wirst es sicher mögen :-)

      Liebe Grüße

      Nisnis

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  5. Hier kann ich dir voll und ganz zustimmen, mich konnte das Buch völlig begeistern! Meinetwegen kann sie ruhig häufiger so etwas schreiben.

    Liebe Grüße,
    Silke

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    1. Oha ja, da stimme ich dir gern zu :-).

      Liebe Grüße

      Nisnis

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  6. Huhu,

    das klingt genial!! Besonders diese Rektion des Kindes auf das Lied macht mich jetzt neugierig :) Das landet auf meiner WuLi ^^

    Tintengrüße von der Ruby

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    1. Liebe Ruby,

      die Empfindungen des kleinen Mädchens sind besonders spannend, weil es so unklar ist, woher diese Reaktionen kommen können. Es ist einfach nicht greifbar und nicht mit einem gesunden Menschenverstand zu erklären.

      Schön, wenn ich deine Wunschliste bereichern konnte.

      Liebe Grüße

      Nisnis

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  7. Bei der Rizzoli & Iles Reihe habe ich irgendwann aufgehört, weil ich den Fehler gemacht habe, in die Fernsehserie reinzusehen. Das hat mir den Lesespaß verdorben.
    Dieser Thriller hier ist aber doch eine gute Gelegenheit, bei der Autorin wieder anzuknüpfen. Ich lese ihre Art zu Schreiben nämlich sehr gern.

    LG Gabi

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    1. Liebe Gabi,

      nachvollziehbar. Totenlied ist einmal mehr ganz anders. Es wird dir ganz sicher gefallen!

      Liebe Grüße

      Nisnis

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  8. Anonym1.12.16

    Lorenzo nicht Lamberto

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    1. Liebe oder Lieber Anonym ;-),

      lieben Dank dass du mir Vertipper aufgezeigt hast. Schade dass du anonym unterwegs bist, ich hätte gern Danke gesagt.

      Viele Grüße

      Nisnis

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