Bibliophiles Gedöns - Wörterbuch der bibliophilen Sorgen

07 Januar 2017

Diagnostik für bibliophile Emotionalitäten und Lesegewohnheiten


Wie umschreibt ihr eure Gefühlswelt, wenn ihr unter schwersten akuten- oder bereits chronischen Symptomen bibliophiler Sorgen leidet?

Werdet ihr von den Menschen in eurem Umfeld verstanden, wenn ihr voller Sehnsucht einer Neuerscheinung mit bereits erhöhter Temperatur entgegenfiebert, wenn ihr depressiv werdet, weil eure Lieblings-Buchreihe zu Ende geht oder wenn ihr euren literarischen Maßstab ab sofort so hoch ansetzt, dass ihr mit eurem üblichen Lesevergnügen nur in die Tiefe hinabstürzen könnt? 

Wie viele eurer Worte sind notwendig, um euren ernsten Zustand zu beschreiben, den ein "Nichtbibliophiler" bedauerlicherweise nie ganz nachvollziehen kann?


Ab sofort sind die ersten Diagnosen festgeschrieben, mit denen ihr euch zukünftig erklären könnt. Bedauerlicherweise ist die diagnostische Befundung jedoch auch heute noch schwierig und der rezidive Therapieverlauf wird weiterhin kurvenreich und schwankend sein, denn eine Heilung kann letztendlich nicht erreicht werden.

Ich freue mich sehr, dass ich euch mit freundlicher Genehmigung der lieben Online-Redakteurin Maren Kahl von Was liest Du?, folgend ihr kleines, liebevoll verfasstes Wörterbuch der bibliophilen Sorgen vorstellen darf.

Diesen Post habe ich bereits im vergangenen Jahr verfasst und veröffentlicht, doch irgendwie ist er im technischen Nirvana des Blogs verloren gegangen und nicht mehr aufzufinden. Es wäre zu schade, wenn er ungelesen bliebe, also poste ich ihn heute für euch noch einmal und wünsche euch viel Spaß damit.
Postlegere-Tristesse

Symptomatik:
„Buchende“

Das Gefühl, das nach dem Beenden eines guten Buches eintritt. Eine belastende Mischung aus einem unbeschreiblichen Hochgefühl, hervorgerufen durch eine nahezu euphorische Begeisterung für das zuvor Gelesene, und einer tiefen Traurigkeit, weil man sich von liebgewonnenen Menschen trennen und aus der fast heimisch gewordenen Atmosphäre der Fiktion heraustreten muss, um zurück in die Realität zu finden, die mit einem Mal so fremd und trist erscheint.
Arithmetische Elegie 

Symptomatik: 
„Betrachtung der Wunschliste und Komplikationen beim SuB-Abbau“

Die bestürzende Gewissheit, die eintritt, wenn man ausrechnet, wie viel Zeit es in Anspruch nehmen würde, alle Bücher auf der Wunschliste tatsächlich zu lesen, und man feststellen muss, dass die Lebenszeit schon jetzt nicht mehr ausreicht. Ein belastendes Gefühl, das häufig beim Betrachten von Bücherregalen eintritt und mit einem beklemmenden Druck auf der Brust vergleichbar ist.
Nervöse Expectritis

Symptomatik:
 „Neuerscheinungen“

Die nervöse Anspannung, während man auf die Veröffentlichung eines Folgebands wartet. Eine Mischung aus Vorfreude auf die neue Lektüre, ungeduldiger Erregtheit und einem Hauch Ärger über die Fremdbestimmtheit, der man ausgeliefert ist. Man hat keinen Einfluss auf den Erscheinungstermin, sondern ist ganz und gar von der Disziplin, Kreativität und Vitalität des Autors abhängig. Und immer ist ein Hauch Sorge dabei, eine leise Angst, dass es durch unvorhersehbare Umstände nie zu einem neuen Band kommen könnte.

Legere interruptus 

Sympthomatik:
 „Störung des Leseflusses“

Der kurze Moment der Überforderung, wenn man gerade noch in aller Ruhe gelesen hat und gänzlich in der Geschichte versunken ist, dann aber ohne Vorankündigung unterbrochen und gewaltsam aus der Fiktion herausgerissen wird. Das Gefühl, das schier Unmögliche schaffen zu müssen: sich ohne Vorbereitung wieder in der Realität zurechtzufinden, sich auf die störende Quelle einzulassen, präsent zu sein.   

Platonische Befürchtung 

Symptomatik:
 „literarisch hochtrabender Leseanspruch“

Eine leichte Panik, die einen beschleicht, wenn man ein überragendes Buch zu Ende gelesen hat. Während des Lesens sind die Erwartungen unmerklich gestiegen. Ein Gefühl, als hätte man endlich Platons unterirdische Höhle verlassen und könnte nun die wahre Literatur sehen, nicht mehr nur deren schemenhaften Schatten. Man sorgt sich darum, dass sich niemals wieder eine Lektüre mit diesem einen Buch messen kann. Es ist, als hätte es schon jetzt alles, was man jemals gelesen hat oder noch lesen wird, in den Schatten gestellt.
Finale Rührseligkeit

Symptomatik:
„Absturz bei Buchreihen-Ende“

Die feierliche Rührung, von der man überrumpelt wird, wenn man den letzten Band einer Reihe in den Händen hält. Als müsse man den Akt des Buchöffnens gebührend zelebrieren, die Beschaffenheit des Papiers ertasten, jedes einzelne Wort laut aussprechen, es empfinden, sich einer frühzeitigen Nostalgie hingeben, die diesem Anlass angemessen ist. Und gleichzeitig spürt man eine tiefe Traurigkeit, weil man weiß, dass die Geschichte mit diesem Buch ihr Ende findet, dass man sich verabschieden muss von den Helden, die einen womöglich über Jahre treu begleitet haben. 

Circulus Vitiosus Bibliophilus

Symtpomatik:
„ohne Buch unterwegs“

Die Sehnsucht nach einem Buch, wenn man unerwartet aufgehalten wird, etwa durch eine Zugverspätung, einem Stau oder einer langen Wartezeit beim Arzt, und keinen Lesestoff dabei hat. Einerseits ist da dieses leichte Entsetzen darüber, dass man tatsächlich vergessen hat, sich eine Lektüre einzustecken, ein kurzzeitiges Fremdheitsgefühl, weil dieses Verhalten so gar nicht zu einem passen will, andererseits spürt man ein unstillbares Verlangen nach einer Lektüre. So gerne würde man jetzt ein Buch zur Hand haben, die Zeit mit wohltuenden Zeilen genießen, endlich den Roman zu Ende zu lesen, der zuhause auf dem Nachtschrank liegt. Doch in Wahrheit, so muss man einsehen, ist man der puren Langeweile ausgeliefert und hat keinen Einfluss auf die Wartezeit.  Und während man sich seinen Zustand bewusst macht, verstärkt sich die Sehnsucht zu lesen - ein Teufelskreis (lat. Circulus Vitiosus).

12 Kommentare:

  1. Aaaahhh wie genial. Da habe ich mich ja gleich bei einigen 'Symptomen' wiedergefunden. Ganz schlimm ist es mit der finalen Rührseligkeit. Eine beendete Serie - ganz schlimm wenn dann noch dem Hauptprota den man mittlerweile so gut kennt etwas zustößt.
    In Sachen SuB - OMG - ich bin nicht mehr so jung - muss mal ausrechnen wie alt ich werden muss um alle Bücher davon zu lesen.
    Ein ganz toller Beitrag - ich grinse immer noch :-)
    Liebe Grüße
    Kerstin

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    1. Liebe Kasin,

      wir finden in diesem Wörterbuch all unsere schlimmen Buchsorgen ;-) wieder.

      Fein wenn du dich amüsiert hast.

      Liebste Grüße

      Nisnis

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  2. Aaaahhh was ein toller Beitrag. Da habe ich mich ja direkt wieder erkannt.
    Ganz schlimm ist das mit der finalen Rührseligkeit. Ein Horror für mich wenn eine heißgeliebte Serie endet. Ganz schlimm auch wenn 'meinem' Hauptprotagonisten dann zum Ende hin noch etwas zustösst.
    Hach, Dein Beitrag ist echt super - ich hab ja immer noch ein Grinsen im Gesicht.
    Liebe Grüße
    Kerstin

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    1. Es hat mich hoch erfreut, dass du ein Grinsen im Gesicht hast :-).

      Liebe Grüße

      Nisnis

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  3. Auch meine chronische "Arithmetische Elegie" kann regelmäßige heftige Schübe von "Nervöser Expectritis" nicht verhindern.

    Ich fürchte, ich leide schon lange an einer Kombination dieser Symptome :-) Wie gut, dass wir darüber den Humor nicht verlieren und genauso wenig den Spaß daran, uns immer neue "Verursacher" ins Haus zu holen.

    LG Gabi

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    1. Liebe Gabi,

      bei mir kommen immer wieder mehrere Diagnosen im Doppelpack zum tragen. Hach ja, wir haben es schon sehr schwer ;-).

      Liebe Grüße

      Nisnis

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  4. Servus Nisnis,
    was eine echt coole Wörterbuch-Umsetzung, ich musste durchweg schmunzeln und nickend zustimmen ;-) Ein großes Thema ist der Absturz bei Buchreihen-Ende. Wenn man eine innige Beziehung zu allen Charakteren aufgebaut hat, ist das, wie einen Freundeskreis verlieren ...
    Sehr schöne Idee!
    Liebe Grüße
    Kati

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    1. Hey Kati,

      schön dass du noch immer schmunzelst. Ich gebe zu, dass ich hauptsächlich unter der legeren Interruptus leide und dann auch gern mal die Nerven gegenüber meiner Umwelt verliere ;-).

      Liebe Grüße

      Nisnis

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  5. Ich bekenne mich zur "Arithmetische Elegie" gepaart mit "Nervöse Expectritis", welche auf wenig Verständnis trifft, vor allem beim Freund :(
    Ebenso 'leide' ich an "Platonische Befürchtung", jedoch ist mir die "Circulus Vitiosus Bibliophilus" gänzlich unbekannt!

    Ein toller Beitrag meine Feine *-*
    Ganz liebe Grüße,
    Janna

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    1. Liebe Janna,

      die Diagnosen sind ein bunt gemischter Cocktail. Zuviel davon grenzt an einen äußerst dramatischen Gesundheitszustand :-).

      Liebe Grüße

      Nisnis

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    2. Das ist ok, meine Lieblingsmenschen kennen mich nicht anders ;D

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