Ein Alltagsdossier aus Sicht eines an Alzheimer Erkrankten
Plötzlich spürt Maarten Veränderungen an sich selbst, die
ihn fürchten lassen. Er ist oft müde, niedergeschlagen, manchmal durcheinander
und auch vergesslich. Nun ja, denkt er sich, er hat das Alter erreicht in dem
der Körper manch ein Zipperlein zum Vorschein bringen darf.
Aber als die Kälte und die Dunkelheit des vorherrschenden
Winters ihn depressiv stimmen und er sich nichts sehnlicher wünscht als dass
der Frühling endlich einkehrt, ist er zutiefst bedrückt und verunsichert.
Plötzlich hat er Schwierigkeiten seine Gedanken zu ordnen, seine Erinnerungen
verblassen, Personen scheinen ineinander zu verschwimmen und wenn er alleine
ist, geht einfach alles schief.
Maarten hat nur noch eines im Kopf, bloß nicht mit seinem
Durcheinander im Kopf auffallen. So tun als ob. Bloß nichts Vera sagen. Bloß
keine Selbstgespräche führen. Immer warten bis die Umstände irgendwie weiterhelfen.
Und so versucht Maarten seinen Alltag zu meistern, bis
ein kleiner Spaziergang mit dem Hund zum ungewollten Tagesausflug wird, er die
verschlossene Tür zu einer imaginären, dienstlichen Konferenz mit dem Hammer
öffnet, auf den Schulbus der längst ausgezogenen Kinder wartet, ein Fenster
einschlägt, damit der Hund im winterlichen Garten nicht erfriert und er mitten
in der Nacht alle weckt und Klavier spielt.
Maarten spürt dass sich etwas Gravierendes in seinem
Körper zusammen braut und er schildert aus seiner Innensicht, wie ihn die
Krankheit Alzheimer langsam zermürbt und für alles Lebenswerte unfähig macht.
Bernlef (eigentlich Hendrik Jan Marsman, 1937–2012) ist
vor allem als Lyriker und Verfasser zahlreicher Prosawerke hervorgetreten, der
1984 erschienene Roman Hersenschimmen machte ihn weit über die Niederlande
hinaus bekannt. Der deutschen Übersetzung ist ein Nachwort des Autors zum
Erfolg des Buches aus dem Jahr 2007 beigegeben. (Quelle: Reclam Verlag)
Hirngespinste ist ein sehr eindringlicher Roman, der durch
die authentische Figur des Rentners Maarten Klein, die krankheitsbedingten
Veränderungen eines an Alzheimer Erkrankten, aus dessen Innensicht tabulos
schildert.
Dieses Buch ist ein Geschenk.
Es erlaubt einen tiefen Blick in die völlig irritierte
Welt eines an Alzheimer Erkrankten Menschen, der spürt wie sich sein Geist und
sein Körper unaufhaltsam verändern. Diese Innensicht, die uns Gesunden bisher
weitestgehend verschlossen geblieben ist, wird durch diesen Roman zu einer
unheimlichen Ahnung, die wiederum sehr bereichernd ist.
Fast jeder von uns ist schon einmal mit Menschen in
Berührung gekommen, die an einer Demenz oder an einer alzheimerischen Krankheit
leiden, oder man ist familiär sogar betroffen. Und natürlich wissen wir nicht,
wie es tatsächlich in diesen erkrankten Menschen aussieht, was sie fühlen und
empfinden und wie sie tatsächlich leiden. Ist die Krankheit erst ausgebrochen,
erscheinen die Betroffen oft teilnahmslos, doch bis dahin haben sie schon eine
Odyssee aus Ohnmacht, Angst und Verwirrung hinter sich.
Dieses Buch hilft.
Es hilft zu verstehen, was für ein Chaos in dem traurigen
Seelenleben eines Erkrankten herrscht. Wie hilflos er sich fühlt, wie verzagt und
am Boden zerstört, bis die Krankheit ihn schließlich ganz gefangen nimmt und für
immer fesselt.
Ich bin unglaublich dankbar dieses Buch gelesen zu haben,
da es mir manch einen einfühlsamen Aha-Moment geschenkt hat. Dieser Roman
berührt, aber er erlaubt durchaus auch ein Schmunzeln, denn dem
niederländischen Autor liegt es fern, ausschließlich eine melancholische Seite
aufzuzeigen.
Berlef erzählt die Geschichte Maarten Kleins in einer Art
Alltagsdossier. Dadurch verleiht er dem Roman die Authentizität, die die
Erkrankung Alzheimer für jeden Leser zugänglich macht.
Die Figur Maarten Klein ist aus der Ich-Perspektive
dargestellt, bis sie mit Fortschreiten der Erkrankung nach und nach in der
dritten Person zu denken und zu sprechen beginnt. Und dann ist da Vera, seine
geliebte, vertraute Frau, die plötzlich in einem Sog der Entfremdung fast
gänzlich verschwindet.
Bernlefs ist mit Hirngespinste ein meisterliches Werk
gelungen und es ist unglaublich schade, dass es in Deutschland bisher nicht die
Publicity erhalten hat, die es längst verdient.
Durch Türen. Wie
viele? Und all die Richtungen, es ist zum Schwindeligwerden.
„Auf nach Norden!“
Meine Stimme klingt entschlossen, immerhin, aber viel schwächer. (Abnutzung?)
Veras Hand. (Das
ist dich ihre Hand?) Den Blick nicht abwenden jetzt, folgen jetzt, bis ein
großes flaches Stück Holz in Sicht kommt, eine glatte, glänzende Fläche, von
der man zweifach geknickt, in sitzende Haltung hingepflanzt wird. Halte dich am
Holz fest, an der dicken Holzkante. Sonst steigst du auf oder du kenterst.
Es liegt jetzt auch
an Wörtern. Leichte Sätze kommen zuerst, schießen wie Korken nach oben, gewollt
und ungewollt; die besseren Sätze sind zu lang und zu schwer, sie bleiben
irgendwo unter meiner Zunge, dümpeln.
Das Essen. Kann
selber essen, hörst du, bin kein kleines Baby mehr. Viel … viel essen. Keine
Zeit für Besteck, das verschwindet, unter mir in die Tiefe gescheppert. Muss
schnell mit der Hand reingestopft werden. (Ehe sie alles wieder wegnehmen, mich
abputzen, mir mit einem rauhen Lappen die Wangen abwischen.)
Licht wird hohl.
Ein Mensch ist auch voller Löcher. Ein Mensch müsse geschlossener sein. Aud die
Dauer kann man nichts mehr drinbehalten.
Schönes glattes
Holz zum Drüberreiben. Bewegung, die Leerlauf verhindert. Lieber nicht so oft
zur Seite schauen! Den Blick geradeaus.
Gerufe, dass es
wieder schneit. Den Rücken zukehren. Niemals mehr Verwirrung eingestehen.
Soll wieder
woanders hin. (Frage:“ Ob man allein gehen kann“) Hätte gekonnt, aber nun doch
zu gefährlich.
Schweres Hängen an
einem Mohair-Arm. Losgelassen. Falle. Taumele in einen harten Stuhl. Holz an
beiden Seiten. Holzlatten rings um meinen Körper. Halte mich an Dingen fest,
gegen die wirbelnden Flocken da draußen, die ich nun doch sehen muss. Ein
dickes Schneepaket auf Veras blauem Datsun. (Das war soeben wieder einmal ein
guter, schwerer, altmodischer Wortsinn.)
Hirngespinste empfehle ich jedem Leser, der gern eine
Ahnung bekommen möchte, was die Erkrankung Alzheimer, oder auch Demenz, in
einem erkrankten Menschen auslöst. Hirngespinste wird berühren, aufrütteln und
traurig machen, aber es ist ein Geschenk und eine Bereicherung des Verstehens.
Titel: Hirngespinste
Autor: Bernlef
Erscheinungsdatum Erstausgabe: 13.07.2016
Aktuelle Ausgabe: 13.07.2016
Verlag: Reclam, Philipp
ISBN: 9783150204603
Flexibler Einband
Sprache: Deutsch
Was für eine schöne Rezension! Mit der Thematik Alzheimer habe ich mich gezwungener Maßen schon auseinander setzen müssen. Solche Bücher können dabei helfen, daher Danke für diese tolle Empfehlung, auch wenn ich zur Zeit darüber nichts mehr lesen kann und möchte.
AntwortenLöschenLieben Gruß
Tanja
Ja Tanja, diese Art von Geschichten kann man nicht alltäglich lesen. Ich habe mich zunächst blind darauf eingelassen ohne zu erahnen wie viel auch ich wiederkennen würde, denn ich bin auch familiär betroffen.
LöschenWünsche dir noch einen schönen Abend, liebe Tanja.
Nisnis
Jetzt hast du mich mit der Vorstellung dieses Buches voll erwischt. Ich habe die schleichende Krankheit bei einem Nachbarn miterlebt. Er hat mit mir getanzt, mich nach seinem Vater geschickt, mir einen Handkuss gegeben und mich immer zum lachen gebracht und immer wieder erschüttert wie sehr ihn die Qual mit dem Fortschreitenden der Krankheit traf. "Henning flieht vor dem Vergessen" habe ich nach seinem Tod gelesen. Ein Buch das auch sehr authentisch ist da es nach einer wahren Begebenheit geschrieben wurde.VIELEN DANK für Deine tolle Buchvorstellung. Hirngespinste werde ich mir besorgen müssen. Aber lesen kann ich es nur bei entsprechender Verfassung.
AntwortenLöschenLiebe Grüße und einen schönen Sonntag für Dich
Kerstin-Kasin
Liebe Kasin,
Löschenich bekomme eine Gänsehaut bei deinen Zeilen. Ich stimme dir zu, dieses Buch muss man in einer persönlichen, unbelasteten Zeit lesen.
Ich wünsche dir ein schönes Adventswochenende,
Nisnis
Liebe Nisnis
AntwortenLöschenGanz sicher ein bewegendes Buch! Deine Rezension macht mich neugierig. Diese Krankheit ist in unserer Familie leider ebenfalls bereits vorgekommen. Wie die beiden vor mir schon schrieben, kann man es aber aufgrund von persönlichen Erlebnissen vielleicht nicht ertragen. Obwohl es vielversprechend ist, ist es ein sehr beklemmendes Thema, wenn man es selber erlebt hat.
Einen schönen Sonntag noch!
LG Tabea
Liebe Tabea,
Löschenfrüher oder später bewegt es jeden von uns und es tut dann auch sehr weh. Natürlich möchte man sich keine Traurigkeit erlesen, aber dieser Roman hilft einfach zu verstehen, wie der Erkrankte denkt, tickt, fühlt. Da steht die Traurigkeit überhaupt nicht im Vordergrund sondern eher das sich vorstellen können, was in einem Erkrankten gerade passiert.
Ich danke dir für den Besuch hier und wünsche dir eine schöne Adventszeit.
Liebe Grüße
Nisnis
Ahoi Nisnis!
AntwortenLöschenIch bin af der FBM16 auf das Buch aufmerksam geworden, war mir aber nicht sicher, ob es mit der Ankündigung im Verlagsprogramm mithalten kann. Nach deiner Rezension bin ich aber sehr neugierig geworden und setze es auf meine Wunschliste.
Danke für die tolle Rezension!
Cheerio
Mareike/Bücherkrähe
Liebe Mareike,
Löschenes kann mithalten und es ist sehr schade, dass es nicht viel mehr Aufmerksamkeit bekommen hat. Dieser Roman müsste unbedingt getypte werden, denn er ist so wertvoll.
Ganz liebe Grüße und noch einen schönen Sonntag,
Nisnis
Ein anscheinend tolles Buch mit einer wirklich tollen Rezension!! ... Auch ich habe dies vor ca. 2 Jahren mit dem Opa meines Freundes erleben müssen, jedoch keine starke Demenz, sondern Altersdemenz aufgrund der Erkrankung. Es ist wirklich schlimm, und auch wenn das nun grausam für andere klingen mag: in den Anfängen bzw. bei Kleinigkeiten hilft es aber auch dies versuchen mit Humor zu nehmen ... So war der Opa meines Freundes bspw. ganz empört über die neue Zahncreme - es stellte sich heraus es war sein Rasierschaum
AntwortenLöschenLiebe Grüße,
Janna
Liebe crumb,
Löschenauch der Autor Bernelf lässt diesen Humor immer wieder aufblitzen, sodass der Roman auch kein absolutes Trauerspiel ist. Und ich finde das besonders schön, denn aus allen Dingen kann man auch positive Dinge ziehen und Lächeln ist erlaubt.
Liebe Grüße
Nisnis
Hallo! Klingt nach einem unheimlich tollen Roman. Beim Lesen deiner Rezension musste ich ein wenig an Small World von Martin Suter denken, das ich vor Jahren mal gelesen habe und unglaublich begeistert davon war. Alzheimer/Demenz ist ein wirklich interessantes, aber auch beunruhigendes Thema. Umso wichtiger, dass es in Romanen aufgegriffen und gut behandelt wird. Schade, dass das Buch noch nicht mehr Aufmerksamkeit bekommen hat. Es ist aber zumindest gleich mal auf meine Wunschliste gewandert. Danke für die Empfehlung!
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Jennifer
Liebe Jennifer,
LöschenSmall World kenne ich nicht. Also gebe ich das Dankeschön an dich für diesen Tipp weiter ;-).
Herzliche Grüße
Nisnis
Huhu,
AntwortenLöschenpuh, ein Buch, welches definitiv berührt. Aber nicht ein Genre, doch es kommt mal auf die Verschenk-Liste.
LieGrü
Elena
Liebe Elena,
Löschenes ist auch nicht mein Genre, aber ich bin sehr dankbar es doch gelesen zu haben.
Liebe Grüße
Nisnis
Hi
AntwortenLöschenOhne Alzheimer jeden kann es treffen und es ist eine schlimme Krankheit😢.
Meine Oma ist daran erkrankt und jetzt ist die im Heim und kommt so gar nicht damit zurecht. Für mich ist es auch nicht einfach.
Sei lieb gegrüßt
Nicole
Liebe Nicole,
Löschenich weiß wie sich das anfühlt. Ich schnenke euch daher eine kleine Tüte Glück.
Liebe Grüße
Nisnis
Liebe Nisnis,
AntwortenLöschendas Buch ist auf meiner Wunschliste und wandert nun nach deiner Rezension, noch höher. Ich fand auch "Tage zwischen Ebbe und Flut", "Mein Leben ohne Gestern" und "Einfach unvergesslich" sehr berührend. Vielleicht sind die Bücher ja auch was für dich falls du sie noch nicht kennst?
Liebe Grüße
Ela
Liebe Ela,
Löschendie genannten Bücher kenne ich nicht. Vielen Dank für diese Tipps. Ich werde sie mir mal näher anschauen, aber ich glaube nun erst einmal eine thematische Pause zu benötigen ;-).
Liebe Grüße
Nisnis